Bericht über eine ungewöhnliche Aktion des „Netzwerks für Frieden und Menschlichkeit“

mahnwacheWer in den letzten Wochen durch die Essener Innenstadt ging oder sich in der Nähe des Bochumer Rathauses aufhielt, war vielleicht zunächst ein wenig überrascht, plötzlich auf eine Gruppe Menschen, flankiert von tibetischen Flaggen und Gebetsfahnen, zu treffen. Durch eine Dauermahnwache, tibetische Mantragesänge und Meditationen sowie durch verschiedene Petitionen machen seit Anfang April die Aktivisten des ‚Netzwerks für Frieden- und Menschenrechte’ die deutschen Mitbürger auf die politische Lage in Tibet aufmerksam und versuchen, Einfluss auf das Geschick der grausam verfolgten Tibeter zu nehmen.
Einer der Initiatoren der Friedensaktion ist Reinhard Kreckel, Leiter der Akademie der Kulturen NRW. In einem Interview gibt er Auskunft über die Ziele und Perspektiven dieses außergewöhnlichen Engagements.

mahnwache2Die Aktionsform ‚Mantren, Mahnwache und Meditation’ ist in Deutschland bislang doch eher ungewöhnlich. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

RK: Wir wollten etwas machen, das an die Traditionen des tibetischen Volkes anknüpft. Daher bestand unsere Idee zunächst darin, Mantren mit einer Mahnwache zu kombinieren: Die Essener Heilpraktikerin Annette Rohde und ich beschäftigen uns seit langer Zeit mit Mantren – auch für Heilzwecke. Mantra Healing ist eine alte traditionelle Methode aus der Tibetischen Medizin. Ein Mantra ist die Umsetzung einer Intention in Klang und dient der Übertragung der darin schwingenden Bedeutung. Es spricht die Emotion und den Geist an.
Die Wiederholung eines Mantras – gleich ob gedacht, geflüstert, gesprochen oder gesungen – erfüllt diejenigen, die es rezitieren, und die Atmosphäre, welche die Schwingung empfängt, mit seiner Bedeutung. Die Menschen in Tibet wissen: Es wirkt, auch ohne dass man es mit rationalem Denken verstehen muss. Den Tibetern, mit denen und für die wir etwas machen, ist diese Methode von Energieschaffung etwas Vertrautes.

Und warum zusätzlich die Mahnwache?

RK: Wir wollten, dass die Friedensmantren nicht aufhören zu erklingen, bis sich etwas Positives tut. Daher läuft die Aktion Tag und Nacht, seit dem 5.4.08 nonstop … Außerdem setzt eine Mahnwache innerhalb der Innenstadt ein viel deutlicheres Zeichen als z.B. ein Infotisch.

Welche Mantren eignen sich besonders im Hinblick auf die aktuelle Situation in Tibet?

RK: Wir rezitieren vor allem das Mantra der Tara, die für Tatkraft, Befreiung und Heilung steht: ‚Om tare tuttare ture soha‘. Zusätzlich verwenden wir das im Westen vielleicht bekannteste Mantra ‚Om mani peme hung’ (bzw. sanskrit: Om mani padme hum), das Mantra der Liebe und des Mitgefühls. Schließlich geht es uns darum, eine friedliche Welt zu schaffen … Nach 21 Tagen gab es ja auch eine erste kleine Erfolgsnachricht: China hat dem Dalai Lama einen Dialog angeboten – in welcher Form auch immer! Dieser 25. April ist der Tag des 19. Geburtstags des Panchen Lamas, der seit 1995 von den Chinesen verschleppt ist …

Wie viele Leute haben sich durchschnittlich beteiligt?

RK: Glücklicherweise standen direkt von Anfang an engagierte, fleißige Helfer bereit, so dass wir permanent fünf Leute vor Ort waren, manchmal hatten wir bis zu 50 Menschen am Zelt – nachts entsprechend weniger.

Wie war die Reaktion der Bevölkerung?

RK: Wir mussten den Leuten nicht hinterherlaufen. Die sahen das Zelt, die Fahnen und fragten, wie sie uns helfen können. Die Unterstützer wurden von uns im Internet auf den Petitionslisten eingetragen und sofort gezählt: Bis zum 30.04.08 waren es 1,7 Mio. weltweit, davon allein 3000 von uns im Ruhrgebiet gesammelt. Einige Passanten haben sich uns spontan angeschlossen, mitgesungen und -meditiert. Dabei ergab sich eine gute Mischung der Interessenten: Menschen aus allen Schichten, In- und Ausländer, Kurden, die ebenfalls Verfolgte sind, Mitarbeiter der Kirchen und Volkshochschulen, Arbeitslose, Obdachlose, Regierungsbeamte, Polizisten und Soldaten in Zivil und sogar Punks, die sich zum Teil dazugesetzt und mitmeditiert haben.

Die Tibetinitiative Deutschland / Essen ist mitbeteiligt – welche anderen Organisationen gehören außerdem zum ‚Netzwerk für Frieden- und Menschenrechte’?

RK: Der Verein der Tibeter in Deutschland e.V., Jugendverbände, Kirchenmitarbeiter, Buddhistische Zentren, z.B. das in Bochum und viele andere Vereine, Geschäftsleute und Privatpersonen, es werden ja ständig mehr …

Wie beurteilen die beteiligten Tibeter selbst die Aktion im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung? (Dazu antwortet Kasang Dorje, Exiltibeter und Mitglied der Tibetinitiative Deutschland / Essen.)

Kasang Dorje: Die Aktionen hier haben auf jeden Fall geholfen, sie haben die weltweiten Proteste unterstützt. Freunde von mir haben berichtet, dass die Chinesen die Tibeter mittlerweile ein wenig vorsichtiger behandeln, weil sie wissen, dass die Augen der Welt auf sie gerichtet sind.

Wie beurteilen Sie die Frage der Olympischen Spiele inzwischen? Wie ist ihre Position dazu: Sollten die Spiele stattfinden?

Kasang Dorje: Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Chinesen davon abhalten kann, diese Spiele stattfinden zu lassen … mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen.

Wie können die Menschen dem tibetischen Volk in Zukunft weiterhelfen?

Kasang Dorje: Sie sollten weiterhin Öffentlichkeit schaffen und Unterschriften sammeln. Wir Exiltibeter sind gut geschützt, wo immer wir sind, ob in Deutschland, Großbritannien oder den USA – die Menschen in Tibet sind es nicht!

Die letzte Frage an Sie, Herr Kreckel: Wie geht es nun weiter mit dieser Aktion?

RK: Wir setzen die Aktion bis mindestens Mitte Mai fort. Bis dahin unterstützen wir weiterhin Petitionen nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen und die Friedensbemühungen des Dalai Lama. Dazu veranstalten wir oder beteiligen uns an Friedensaktionen – z.B. Mahnwachen, Mantrasingen, Kulturveranstaltungen und Informationsvorträge. Wir wollen, dass sich etwas ändert in Tibet und in der Welt … Aktuelle Informationen und Handlungsvorschläge geben wir über www.friedensnetz.org.

Zur Galerie der Mahnwache in Essen geht es hier!